[çapulcu redaktionskollektiv 2017, 160 Seiten (Softcover), Unrast Verlag, 12,90€]
(aus: In/Press #2, April 2018)
Der Fortschritt ist unumstößlich mit Technologie verbunden, oder? Das Rad, die industrielle Revolution, das Internet und neuerdings die Smartphones sind da herausstechende Entwicklungen, die den Alltag der Menschheit unumstößlich verändert haben. Die Sprünge sind in den letzten 150 Jahren viel schneller und weiter, als es je zuvor der Fall war. In der jetzigen Zeit entwickeln tausende Firmen zielstrebig daran, den nächsten großen Sprung vorzubereiten.
Das Redaktionskollektiv çapulcu, eine „Gruppe von technologie-kritischen Aktivist*innen und Hacktivist*innen“, setzt sich mit diesen Entwicklungen auseinander und versucht aufzuzeigen, dass Technologie eben auch Gefahren mit sich bringt und nicht nur Vorteile. Das Buch ist 2017 im Unrast Verlag erschienen und findet sich gleichzeitig auch als Broschüre auf der Homepage des Kollektivs.
In dieser Textsammlung wird sich mit der Technologie als Gefahr für die Gesellschaft beschäftigt und aufgezeigt, dass für sie Technologie nicht bloß Technik ist. Technik bedeutet für sie das einfache Werkzeug, während Technologie einen ideologischen Hintergrund hat und damit auch nicht losgelöst von Politik und Ökonomie betrachtet werden kann.
Vor allem der ökonomische Aspekt ist sehr elementar, denn das Buch skizziert klar, welche Möglichkeiten der Kapitalismus in diesen Entwicklungen sieht und was es für Potenziale gibt, die ausgenutzt werden können. Die Menschen werden heutzutage vor allem zu User_innen verschiedener Systeme. Das Kollektiv skizziert dabei düstere Perspektiven, unterfüttert dies aber zugleich immer wieder mit aktuellen Beispielen und Forschungsständen, die aufzeigen, wie nah die Dystopie sein kann.
Am naheliegendsten sind da Google oder die bekannten Social Media Networks wie Facebook und Instagram. In ihnen allen werden die Nutzer_innen zu Kund_innen, welche den genutzten Service zwar frei zur Verfügung bekommen, jedoch indirekt die Nutzung mit ihren Daten zahlen. Alle Informationen und alles ableitbare Verhalten werden damit zu einer heißbegehrten Ware für viele Unternehmen. An diese kommen sie relativ einfach, da sich beispielsweise Facebook als Marktführer platziert hat, sodass es kaum mehr eine Alternative gibt. Facebook ignorieren heißt zugleich auch eine soziale Entscheidung treffen, da die eigenen Kontakte, die für einen interessante Veranstaltungen und wichtige Informationen geballt präsentiert werden. Wer nicht weiß, was dort passiert, bekommt auch viele Diskurse nicht mehr mit. Andere Branchenriesen wie Windows oder Apple sorgen ebenfalls für solche Zwänge, denn der Verzicht auf deren Produkte ist zugleich auch ein großer Einschnitt in den Alltag.
Das Kollektiv zeigt in diesem Zusammenhang einige aktuelle Fälle auf, sorgt aber zugleich leider nicht immer dafür, dass dort ein Ausweg ersichtlich wird. Dass es keine komplette Alternativlosigkeit ist, wird zwar im Unterton klar, ein näherer Schritt in diese Richtung wird jedoch oft nicht gegangen.
Der zweite große Kernaspekt, der thematisiert wird, ist Technologie als Möglichkeit eines repressiven Staates, sich neue Wege und Möglichkeiten der Überwachung zu schaffen. Ein aktuelles Beispiel ist gerade in den letzten Monaten China, welches anfängt, ein Rating-System für die eigenen Bürger_innen zu etablieren, das Menschen nach dem eigenen Verhalten, der Gesetzestreue, den monetären Möglichkeiten sowie dem sozialen Umfeld bewertet, und eine ultimative Vergleichbarkeit aller dort lebenden Menschen schafft. Menschen werden so gläsern und können sich nicht mehr aus einem solchen System herausziehen. Die Anknüpfungspunkte gibt es auch in Deutschland schon, wo etwa Versicherungen versuchen einen umfassenden Zugang zu den Daten der Kund_innen zu erhalten. Was essen diese und wie gesund ist das? Wer zu oft Pommes kauft, muss also auf kurz oder lang vielleicht mehr Geld zahlen als jemand, der doch öfter zum Salat greift. Diese Möglichkeit durch gute Ernährung die eigenen Beiträge auf freiwilliger Basis zu senken, wird auf Dauer wahrscheinlich der Standard und sorgt dafür, dass es irgendwann für alle zur Pflicht wird.
Insgesamt zeichnet der Sammelband in den verschiedenen Texten eine Horrorvision auf, die dringend emanzipatorische Gegenreaktionen benötigt. Leider passiert dieser Schritt nur etwas zusammenhangslos im letzten Kapitel, wo verschiedene beispielhafte Widerstandsbemühungen – von Hacks über Sabotageakte bis hin zu Protestaktionen – aus den letzten Jahren vorgestellt werden. Was bleibt ist ein Verlangen nach Lösungsansätzen, die aber kaum direkt angeboten werden (können?). Das schadet dem Buch grundsätzlich erstmal nicht, sorgt jedoch für eine fehlende Abrundung des Ganzen. Zugleich wird insgesamt immer wieder gesprungen und manche Punkte nur angerissen. Daher schwankt das Gesamtwerk von der Qualität beim Lesen etwas, wenn man versucht es in einem Stück durchzulesen.
Dennoch ist es sehr wichtig sich mit dem eindrücklich präsentierten technologischen Angriff zu beschäftigen. Das Kollektiv liefert einen Blick auf ein Themenfeld, welches bisher viel zu wenig Beachtung erhalten hat und dringend linke Perspektiven braucht, um aus dem sich zuziehenden Korsett auszubrechen. Weiterer Pluspunkt: Wie oben erwähnt gibt es die Möglichkeit das Buch auf der Website (https://capulcu.blackblogs.org) kostenlos zu lesen. Aber unterstützt ruhig die wichtige und richtige Arbeit von çapulcu auch durch eine analoge Version!